„Der gelbe Klang“ – Wassily Kandinsky und die Farbe Gelb
- Susanne Heinen
- vor 1 Tag
- 10 Min. Lesezeit

Im Jahr 2025 starte ich eine neue Artikelreihe im Rahmen der Farbkreisreise: die „Farb-Anekdote“. Den Anfang mache ich im April mit der Monatsfarbe Gelb, die mir gerade jetzt in der Natur durch das üppige Blühen von Narzissen und Forsythien förmlich entgegenlacht. Besonders auffällig sind für mich die zwei Seiten dieser Farbe, das stille Zögerliche und das laute Fordernde. Gelb kann einfach nicht ignoriert werden. 😉
Während ich Gelb in der Natur sehr mag und auch beim kreativen Arbeiten gerne verwende, hat es in meinem Kleiderschrank kaum einen Platz gefunden. Bis auf zwei Paar Boots mit gelber Sohle besitze ich nichts Gelbes. Vielleicht ist es gerade diese zwiespältige Beziehung, die meine Neugier auf Gelb und seine vielen Facetten noch verstärkt.
Jeden Monat tauche ich tief in die jeweilige Monatsfarbe ein, recherchiere, lese und sammle Eindrücke. Dabei stieß ich auf einen Künstler, der Gelb nicht nur sah, sondern es auch hörte und fühlte: Wassily Kandinsky. Seine Gedanken zur Farbe, besonders sein synästhetischer Zugang und das Werk „Der gelbe Klang“, haben mich sofort fasziniert.
In dieser Farb-Anekdote widme ich mich daher Kandinskys besonderem Verhältnis zur Farbe Gelb und der Frage, was passiert, wenn eine Farbe mehr ist als nur ein Farbton.
Alle Informationen zur Farb-Anekdote und weitere Geschichten findest du im Übersichtsartikel dieser Artikelreihe unter:
Darum geht es in diesem Artikel:
Um den Lesefluss nicht mit komplizierten Zwischenerklärungen zu stören, habe ich teilweise diese „💡Infoboxen“ eingefügt. Dort findest du ausführlichere Informationen zu manchen Textstellen.

Warum klingt Gelb wie eine schrille Trompete?
Was geschieht, wenn Farben nicht mehr bloß gesehen, sondern gehört, gefühlt und erlebt werden? „Der gelbe Klang“ ist mehr als ein Bühnenstück, es ist ein mutiger künstlerischer Entwurf, der alle Sinne einbezieht. Wassily Kandinsky (1866 – 1944) entwarf dieses visionäre Bühnenexperiment vor über hundert Jahren und war damit seiner Zeit weit voraus. Statt klassischer Handlung gibt es leuchtende Farbflächen, sich wandelnde Lichtstimmungen und eine Musik, die nicht bloß untermalt, sondern mitformt.
Kandinsky war ein Synästhetiker, ein Mensch, bei dem sich Sinneseindrücke auf besondere Weise miteinander verbinden. Für ihn war eine Farbe nie nur Farbe. Sie klang, hatte eine Temperatur, vielleicht sogar einen eigenen Geruch.
💡Infobox: Synästhesie

Wassily Kandinsky war nicht nur Maler, sondern auch Musiker, er spielte Klavier und Cello. Vielleicht war es genau dieses Zusammenspiel von Klang und Gefühl, das ihn so empfänglich machte für die Welt der Synästhesie.
Für ihn gehörten Farben und Töne untrennbar zusammen: Gelb konnte laut sein wie eine Trompete. Blau klang melancholisch, tief und nach innen gerichtet. Ein dunkles Rot vibrierte wie der warme Klang eines Cellos.
*Bildquelle: wikipedia
Lizenz: gemeinfrei
Für Kandinsky war Farbe niemals nur eine Frage des Sehens. Diese besondere Wahrnehmung prägte sein gesamtes künstlerisches Schaffen. Jede Farbe war für ihn lebendig, voller Klang, mit einem eigenen Charakter und nicht nur ein optisches Phänomen allein. Sie war Klang, Empfindung, Energie. Für ihn hatten Farben eine tiefere Bedeutung: Sie waren nicht nur visuell, sondern innerlich spürbar, mit eigener Bewegung, Ausstrahlung und emotionalem Gewicht. Und unter all den Farben, die sein Werk durchziehen, nimmt Gelb einen besonderen Platz ein.
In seinem grundlegenden Werk „Über das Geistige in der Kunst“ schrieb er:
„Gelb ist die typisch irdische Farbe. Sie hat einen wahnsinnig beweglichen, unruhigen Charakter. [...] Gelb klingt wie eine schrille Trompete, wie ein übermütiger Lärm.“
Gelb war für Kandinsky keine besänftigende Farbe. Kein sonniges, leises Leuchten, sondern ein Aufbruch, ein inneres Rufen, das sich nicht überhören lässt. In seinem Verständnis war Gelb eine Farbe, die auf den Betrachter zukommt, ihn beinahe anspringt. Es ist die Farbe des Extravertierten, des Aufgeregten, manchmal des Nervösen. Ihr Klang? Hoch, durchdringend, fast schneidend.
„Der gelbe Klang“ – Ein Bühnenentwurf zwischen Farbe, Musik und Vision
Die Idee, dass Farben klingen und emotionale Zustände ausdrücken, zieht sich wie ein roter Faden durch Kandinskys gesamtes Werk. Besonders deutlich wird sie in seinem visionären Bühnenentwurf „Der gelbe Klang“, in dem Farben selbst zu Akteuren werden.
Diese synästhetische Wahrnehmung, bei der Kandinsky Musik in Farben umsetzt, wurde maßgeblich durch das Hören der Stücke vom Komponisten Arnold Schönberg im Jahr 1911 inspiriert. Vor allem das Stück „Drei Klavierstücke, Op. 11“, das eine emotionale Tiefe und Atonalität besitzt, rief in ihm starke visuelle Eindrücke hervor. Diese Erfahrung motivierte ihn, mit der Darstellung von Musik in bildnerischen Formen zu experimentieren.

Später, im Jahr 1913, malte er das Bild „Komposition VI“, das die dynamische, klangliche Bewegung der Musik in abstrakte Formen und Farben übersetzt und seine weiterentwickelte Auseinandersetzung mit der Musik Schönbergs reflektiert.
*Bildquelle: wikipedia
Lizenz: gemeinfrei
Wassily Kandinsky schrieb ‚Der gelbe Klang‘ zwischen 1909 und 1910 gemeinsam mit dem Komponisten Thomas de Hartmann, einem engen Freund und künstlerischen Weggefährten. Hartmann war nicht nur Musiker, sondern teilte mit Kandinsky auch ein starkes Interesse an Theosophie und spirituellen Dimensionen der Kunst. Die beiden verband eine intensive Suche nach einem Gesamtkunstwerk, das Musik, Malerei, Bühne und Bewegung zu einer neuen Ausdrucksform verschmilzt. Sie wollten eine Kunst schaffen, die alle Sinne berührt und starke Gefühle auslöst, ganz ohne eine herkömmliche Handlung.

„Der gelbe Klang“ wurde 1912 im Almanach „Der Blaue Reiter“ veröffentlicht. Kandinsky gab den Almanach gemeinsam mit Franz Marc heraus.
Dieser Almanach versammelte Texte und Abbildungen führender Künstler und Denker der Moderne, darunter Beiträge von z. B. Paul Klee, Arnold Schönberg oder August Macke.
Er gilt als geistiges Manifest der gleichnamigen Künstlergruppe und setzte sich stark für das Zusammenwirken und die Einheit aller Künste ein.
*Bildquelle: wikipedia
Lizenz: gemeinfrei
Gelb – nicht nur Licht und Farbe, sondern Bewegung
Der „Gelbe Klang“ war Teil eines visionären Bühnenkonzepts und gehörte zu einer Reihe von weiteren Stücken, die jedoch nur in Fragmenten ausgearbeitet wurden, darunter „Schwarz und Weiß“, „Grüner Klang“ und „Violett“. Es ist kein klassisches Theaterstück, sondern eine experimentelle Bühnenkomposition, wie Kandinsky sie nannte. In der kunsthistorischen Literatur spricht man heute auch von einem „Klangdrama“, ein synästhetisches Erlebnis aus Farbe, Licht, Klang und Bewegung. Es gibt keine wirkliche Handlung, keine greifbaren Figuren, alles ist miteinander verwoben zu einem Erlebnis, das rational schwer zu erfassen war.
Das Ziel war nicht, eine Geschichte zu erzählen, sondern emotionale Zustände zu erzeugen. Die Bühne sollte zur Projektionsfläche innerer Vorgänge werden, ganz im Sinne von Kandinskys Idee der „inneren Notwendigkeit“. Die „innere Notwendigkeit“ ist eine von ihm formulierte Theorie, wonach wahre Kunst aus einem inneren, geistigen Impuls entstehen muss, nicht aus äußerer Nachahmung.
💡Infobox: „Innere Notwendigkeit“
Diese Gedanken stehen in engem Zusammenhang mit den spirituellen Strömungen seiner Zeit. Besonders die Theosophie, wie sie etwa von Helena Blavatsky oder Rudolf Steiner vertreten wurde, beeinflusste Kandinskys Denken nachhaltig. In ihr fand er die Vorstellung einer unsichtbaren, geistigen Welt, die sich in Schwingungen, Farben und Formen ausdrückt. Ein Resonanzraum, in dem Kunst zur Brücke zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren wird.
Worum geht es in „Der gelbe Klang“?
Das Bühnenstück ist keine klassische Geschichte mit Handlung und Figuren, sondern ist als Stimmungsbild konzipiert. Ein Erlebnis aus Farbe, Musik, Licht und Bewegung. Wie ein Traum in Farbe, mit leuchtenden Flächen, sich wandelnden Lichtstimmungen und Musik, die nicht begleitet, sondern mitgestaltet. Die Farbe Gelb übernimmt dabei eine zentrale Rolle, nicht als dekoratives Element, sondern als aktiver Handlungsträger. Gelb ist Bewegung, Klang, Raum.
💡Infobox: „Der gelbe Klang“ – Inhalt und Aufbau
Die Musik begleitet das Geschehen nicht nur, sondern gestaltet es mit. Farben treten nicht nur als Licht auf, sondern werden zu emotionalen, fast lebendigen Akteuren. Es gibt kein klassisches Bühnenbild, sondern wandelnde Lichtflächen und symbolhafte Kostüme.
Das Ziel: Nicht das Verstehen, sondern das Erspüren von inneren Zuständen. Kandinsky wollte, dass das Publikum mit allen Sinnen angesprochen wird und sich auf eine Reise ins Innere einlässt.
Kandinsky schrieb das Stück in einer Zeit, in der er intensiv mit dem Gedanken spielte, die Malerei zu „verklanglichen“ oder Musik zu visualisieren. „Der gelbe Klang“ ist der Versuch, Farbe in Bewegung und Klang zu übersetzen. Es ist eine Pionierarbeit auf dem Weg zu dem, was wir heute als immersive Kunst bezeichnen würden.
💡 Infobox: Was ist immersive Kunst?
Von der Vision zur späten Aufführung
Eine für 1914 geplante Inszenierung in München konnte durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht realisiert werden. Kandinsky selbst erlebte zu Lebzeiten keine Aufführung seiner Bühnenvision.
Die eigentliche Uraufführung von „Der gelbe Klang“ fand erst am 12. Mai 1972 im Guggenheim Museum in New York City statt. Sie basierte auf einer rekonstruierten Fassung der verschollenen Originalmusik und war die erste vollständige Bühnenumsetzung von Kandinskys Konzept. Seitdem gab es mehrere künstlerische Annäherungen, teils mit modernen Musik- und Lichtkonzepten.
Zwischen 1909 und 1914 entwickelte Kandinsky weitere Bühnenentwürfe, die thematisch und ästhetisch an „Der gelbe Klang“ anknüpfen. Zu diesen zählen unter anderem „Schwarz und Weiß“, „Grüner Klang“ und „Violett“. Auch sie wurden nie vollständig realisiert und folgten auch der Idee eines synästhetischen Gesamtkunstwerks, einer Verschmelzung von Klang, Farbe, Bewegung und Raum.
„Der gelbe Klang“ gehört zu den wegweisenden Ansätzen, die bereits vor über hundert Jahren Elemente vereinten, die wir heute als Merkmale multimedialer oder immersiver Kunstformen kennen.
Warum der gelbe Klang bis heute nachwirkt
Auch wenn „Der gelbe Klang“ zu Kandinskys Lebzeiten nie aufgeführt wurde, hat dieser künstlerische Entwurf nichts an Strahlkraft verloren. Er war ein künstlerischer Vorstoß in eine neue Welt. Wer sich für moderne Bühnenkunst, Rauminstallationen oder synästhetische Erfahrungen interessiert, findet hier ein faszinierendes historisches Fundament.
Doch „Der gelbe Klang“ ist mehr als ein kunsthistorisches Kuriosum. Er stellt eine bis heute aktuelle Frage: Wie lässt sich Kunst mit allen Sinnen erleben?
Im Jahr 2024 wurde Kandinskys Idee in München neu zum Leben erweckt: Die Freie Bühne München interpretierte „Der gelbe Klang“ in einer inklusiven Inszenierung, die Farben, Licht und Bewegung zu einer sinnlichen Erfahrung verband. Ganz im Geiste von Kandinskys Vision und angeregt durch Oliver Sacks' „Die Insel der Farbenblinden“.
Kandinsky träumte von einer Kunstform, die nicht nur das Auge anspricht, sondern Klang, Farbe, Bewegung und Gefühl zu einem Ganzen verbindet. Damit regt er uns an, die Grenzen zwischen den Künsten zu hinterfragen und vielleicht selbst wieder sensibler zu werden für das, was wir hören, sehen, empfinden.
Mein Fazit
So sehr ich die Entstehung und Hintergründe vom „Gelben Klang“ auch nachvollziehen kann, bin ich mir nicht sicher, ob ich an einer Aufführung wirklich Gefallen gefunden hätte. Sie wirkt auf mich zu wenig greifbar, zu sehr entrückt. Und doch fasziniert mich diese Idee einer Kunstform, die über das Sichtbare hinausgeht und versucht, innere Zustände in Farbe, Klang und Bewegung zu übersetzen. Vielleicht liegt gerade darin der Zauber: dass nicht alles verstanden werden muss, um eine tiefe Resonanz zu erzeugen.

„Zwischen Farbe und Gefühl liegt ein Funke“, genau diesen Moment strebte Kandinsky in seiner Kunst an: den Funken schüren, der die tiefere, emotionale Verbindung zwischen der Farbe und dem Betrachter entfacht.
Was also hörst, siehst, empfindest du, wenn du Gelb betrachtest? Ich freue mich über einen Austausch mit dir in den Kommentaren.
Lesetipps und weiterführende Informationen
„Über das Geistige in der Kunst“
Wenn du „Der gelbe Klang“ besser verstehen möchtest, dann möchte ich dir Kandinskys theoretisches Hauptwerk „Über das Geistige in der Kunst“ empfehlen. Es ist weit mehr als ein kunsttheoretischer Text, es ist sein leidenschaftliches Plädoyer für eine Kunst, die aus dem Innersten kommt und berühren soll.
Kandinsky beschreibt darin, wie Farben nicht nur gesehen, sondern auch gehört und gefühlt werden können. Seine Gedanken zur „inneren Notwendigkeit“ und zur Wirkung von Farben und Formen bilden die Grundlage für seine Bühnenkompositionen. Kandinsky verfasste dieses Werk 1910, also zeitlich parallel zum „Gelben Klang“.
„Der gelbe Klang“
Das vollständige Textbuch zu „Der gelbe Klang“ von Wassily Kandinsky wurde erstmals 1912 im Almanach „Der Blaue Reiter“ veröffentlicht, den Kandinsky gemeinsam mit Franz Marc herausgab. In diesem Werk ist das Bühnenlibretto als eigenständiger Beitrag enthalten. Eine Mischung aus Szenenanweisungen, Farb- und Klangvorstellungen sowie kurzen Textpassagen. Die Sprache ist teils experimentell, teilweise fast poetisch-abstrakt, ganz im Sinne seiner Idee einer neuen, synästhetischen Bühnenkunst.
Digitale Versionen: Eine illustrierte und bearbeitete E-Book-Ausgabe von „Der gelbe Klang“ ist im Verlag Neue Impulse erhältlich
Almanach „Der blaue Reiter“
Originalausgabe (1912): Die Erstausgabe des Almanachs „Der Blaue Reiter“ enthält „Der gelbe Klang“ im Anhang. Diese historische Ausgabe ist heute selten, aber digital verfügbar, z. B. über das Internet Archive: Der Blaue Reiter – Internet Archive
Moderne Ausgaben: Es gibt verschiedene Nachdrucke und Studienausgaben, die den Text enthalten. Achte beim Kauf darauf, dass „Der gelbe Klang“ explizit als Bestandteil aufgeführt ist. Einige Ausgaben bieten zusätzliche Kommentare oder Illustrationen.

Dieser Artikel ist Teil der Artikelserie „Farb-Anekdoten: Wenn Farben Geschichten erzählen“. Den Blogartikel mit allen Artikeln zum Nachlesen findest du hier.
Kennst du schon in meinem Newsletter?
Mach deine Welt bunt – mein Newsletter mit Tipps und Infos zum Thema artCounseling, kreatives Gestalten, Kursangeboten und vielem mehr.
Ich freue mich über dein Interesse. Hier kannst du dich anmelden:

Comments